Der Poet der kleinen Dinge (Marie-Sabine Roger)

Über die kleinen Dinge des Lebens, und dass Behinderung nicht unbedingt etwas mit körperlichen Unzulänglichkeiten zu tun hat.
Alex ist eine Herumtreiberin, die es nirgends lange aushält. Derzeit arbeitet sie in einer Hühnerfabrik irgendwo in Frankreich auf dem Land, aber keineswegs in der Idylle, sondern im tristen, industriegeprägten Umfeld. Sie wohnt privat, die Vermieterin (vermutlich mittleren Alters) richtet die Welt nach ihren Vorstellungen und ist eine typische alles kritisierende Hausfrau, ihr (wahrscheinlich gleichaltriger) Mann hat längst resigniert. (Klischee.) Er hat einen Bruder, Gérard, den Alex Roswell nennt, denn Gérard sieht monströs wie ein Alien aus und ist körperlich schwer behindert (so geboren). Er kann sich auch kaum ausdrücken. Aber sein Gehirn arbeitet gut, und er hat es gelernt, sein Leben von der besten Seite zu sehen. Durch seine unerschütterlich gute Laune und seine schrägen Einfälle, seine Liebe zur Poesie, die er in Gedichten und mit grausam falsch gesungenen Liedern ausdrückt, zeigt er jedem, der ihm zuhören will, worauf es ankommt. Sein Bruder hängt an ihm, behandelt ihn jedoch wie einen Behinderten, und seine Schwägerin sieht ihn nur als nutzloses, nervtötendes und belastendes Anhängsel. Ihr Geduldsfaden reißt, als Roswell bei dem Versuch, sich Popcorn zu machen, die Küche in Brand setzt, und sie plant, ihn heimlich auszusetzen.
Alex, „behindert“ durch ihre Bindungsunfähigkeit, ist fasziniert von Roswells bodenständiger Lebensphilosophie, und bald zieht der schräge Poet auch noch zwei weitere haltlose und im Prinzip gleichfalls „behinderte“ junge Männer in seinen Bann, denen er plötzlich einen Lebenssinn und Lebensfreude gibt.
Der Beginn ist reichlich zäh, da man keinerlei Vorstellung von den handelnden Personen – vor allem von der Ich-Erzählerin – bekommt, die sich absichtlich den androgynen Namen „Alex“ gegeben hat, weil sie ihre Weiblichkeit auf ihren Reisen lieber versteckt. Obwohl sie schon auf die 30 zugeht, benimmt sie sich eher wie ein Teenager; ebenso übrigens die beiden jungen Männer Olivier und Cédric, die wie Anfang 20 wirken. Ebenso habe ich eine Weile gebraucht, bis ich verstanden hatte, dass aus der Sicht von zwei Ich-Erzählern berichtet wird, das war mir nicht von Anfang an klar.
Roswell als Nebenfigur hingegen ist immer verständlich und nachvollziehbar, die Gedichte werden allerdings nur am Anfang erwähnt, dann leider nie wieder.
Das Ende ist ziemlich holterdipolter, obwohl sich da eine Menge Konfliktpotenzial angeboten hätte, was der Geschichte durch mehr Länge und Tiefgang sehr gut getan hätte. So aber wird plötzlich jemand zur Errettung aus dem Hut gezaubert, und zack, schon wenige Seiten später ist alles eitel Wonne. Schön, dass es ein gutes Ende gibt, aber die Hinführung ist viel zu hastig. Als ob die Autorin sonst den vorgegebenen Seitenrahmen gesprengt hätte, führt sie zu einem abrupten Ende.
Es ist eine recht kurze, leicht lesbare, nicht allzu anspruchsvolle Geschichte, die allerdings mit einigen guten bis äußerst gelungenen Zitatsprüchen aufwarten kann und ein kurzweiliges Lesevergnügen bietet.

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