Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry (Rachel Joyce)

Da sind wir also, in Südengland unten, in einem beschaulichen kleinen Örtchen, im Haus eines Rentnerpaares, das sich nichts mehr zu sagen hat. Harold Fry bekommt eine Karte aus einem Hospiz an der schottischen Grenze, 1000 Kilometer entfernt. Seine ehemalige Kollegin Queenie, von der er seit Jahrzehnten nichts mehr gehört hat, schreibt ihm, dass sie bald sterben wird. Und Harold setzt sich hin und schreibt eine artige Antwort. Damit geht er zum Briefkasten. Und dran vorbei und immer weiter, weil er feststellt, dass egal welche Antwort er schickt, sie schäbig ausfallen wird und nichts von den Schuldgefühlen abtragen kann, die seit langer Zeit auf ihm lasten.
Zu Beginn hat Harold noch den Plan, den Brief einzuwerfen, bis er die Entscheidung trifft: Queenie darf nicht sterben, nicht einfach so und jetzt. So lange er geht, wird sie leben, das wird Mantra und Dogma zugleich. Und das schreibt er ihr auch. Und wandert einfach weiter, ohne Handy, ohne Karte, ohne Plan und nur mit einem einfachen Paar Segelschuhe. Er ist völlig ungeübt und bekommt das bald zu spüren, doch er geht weiter. Er begegnet vielen Leuten unterwegs, und jedem gibt er etwas. Indem er zuhört. Regelmäßig meldet er sich bei seiner Frau, doch sie haben sich nichts zu sagen. Auch sie ist gequält von Wut und Schuld.
So reist auch sie auf ihre Weise, durch die Vergangenheit, und so nähern sie sich einander wieder an.
Ein zauberhafter, sehr britischer (und dadurch auch kritischer) Roman über Liebe und Verrat, Trauer, Schuld und vor allem Loyalität. Zwischendrin wird Harolds Reise zum Medienhype und von anderen für eigene Zwecke ausgenutzt, doch er selbst bleibt weiter auf seinem Weg. Er beginnt seine Reise, wie er sie beendet: Allein. Doch am Ende ist er um sehr vieles reicher. Nach und nach klären sich die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit, und je heller es wird, desto besser kann er seine Frau wieder erkennen – und sie ihn.
Eine Geschichte, in der es „nur“ um das Menschliche geht. Wunderschön, anrührend, berührend, vor allem eindringlich in ihrer Schlichtheit und dabei sauspannend. Das ist richtige Schreibkunst, wo nicht die Geschichte, sondern das Erzählen dominiert.

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