Ein bisschen was von der Seele reden.

Am 28. November 2012 veränderte sich unsere Welt innerhalb weniger Sekunden. Mein Mann stürzte hoch von einer Leiter auf Beton und brach sich mehrfach und im Trümmerbruch beide Beine. Und das war noch ein Glück, es hätte viel viel schlimmer kommen können. Es folgte ein langer Klinikaufenthalt und dann noch eine 7-wöchige Liegephase zu Hause. Erst dann konnte behutsam wieder mit dem Laufen angefangen werden. Es wird alles wieder gut, aber es dauert seine Zeit. Noch mindestens 1 Jahr. Bis dahin braucht es Geduld, vor allem mit den Schmerzen.
Was man aber mit der Umwelt damit erlebt – und ich rede hier ausschließlich von zufälligen und geschäftlichen Begegnungen, also Fremden, mit denen man gar nichts oder nur wenig zu tun hat. Angefangen hat es schon in der Klinik, er lag noch gar nicht auf dem OP-Tisch, als ihm schon angeraten wurde, mal über die Frührente nachzudenken. Mein Mann ist Mitte Fünfzig. Und er hätte Zuspruch brauchen können, nicht so etwas. Jemand, der mental nicht so stabil ist, könnte darüber in Verzweiflung geraten – aber wer denkt darüber schon nach, der nicht davon betroffen ist. Und zu dem Zeitpunkt wusste man schon, dass die Verletzungen zwar sehr schwer sind und der Heilungsprozess langwierig sein wird, aber dass es wieder in Ordnung kommt.
Beide sind wir stabil genug, dass uns all das nicht weiter tangiert. Mein Mann ist eine Kämpfernatur, er zweifelt nicht an seiner Genesung, und ich auch nicht. Es ist schwer, aber man steht es durch.
Alles in allem aber sind doch die Reaktionen der fremden Leute auf Behinderung interessant zu beobachten. Mein Mann erlebt das seit Monaten täglich live. Er ist ja derzeit noch auf Krücken angewiesen, und da gibt es schon so einiges an Hohn und Spott. Zum Beispiel, wenn Väter ihre Kinder mit einem Witz drauf aufmerksam machen mit Fingerzeig „oh guckt mal da …“; besonders „rücksichtsvoll“ sind Frauen mit Einkaufstaschen (alt. ohne = Geschäftsfrau in Anzug/Kostüm) auf der Straße oder im Laden, die ihn einfach wegrempeln, weil sie es eilig haben, und sich auch noch über ihn mokieren, im Weg zu sein; oder im Restaurant, dass man sich über die Krücken aufregt, über die man stolpern könnte. Aber auch das sofortige Vorurteil, wer gehbehindert ist, kann auch geistig nicht auf der Höhe sein. So kommt es, dass es für meinen Mann wahnsinnig schwierig ist, seinen Job auszuüben; nicht nur, weil er körperlich stark eingeschränkt ist, sondern weil auch die Kunden „mit einem Behinderten“ lieber nichts zu tun haben wollen. Könnte ja ansteckend sein. (Manchmal, wenn ich in der Nähe bin, habe ich den Eindruck, die Leute nehmen an, er sei ein Zombie, der vor ihren Augen verfault.) Dann kommt noch das Alter hinzu, das bedeutet die umgehende Annahme, diese Behinderung kann ja gar nicht von einem Unfall stammen, sondern ist die Hüfte, oder Ostheoporose, und dann sind die guten Ratschläge nicht weit. (Wir können kaum in Ruhe essen gehen.) Wenn mein Mann die Leute darauf hinweist, dass ein Unfall die Ursache ist, dann herrscht oft Erstaunen – „ach, nur ein Bruch, das ist ja nicht so schlimm, der Schwager des Freundes der Cousine meiner Frau hatte neulich auch blablafaselschwätz“. Manchmal kommt auch: „Ja ist das denn immer noch nicht vorbei? Sind doch schon mehr als sechs Wochen, so lange dauert das doch gar nicht.“ (Ich gebe zu, darauf reagiere ich inzwischen ein wenig ungehalten.) Dass beide Beine mehrfach gebrochen sind, soweit hören die Leute gar nicht erst zu und es interessiert sie auch nicht. Alles wird in Sekunden zurechtgelegt, wie es einem passt, und mehr braucht’s nicht.
Es hat sich also trotz „Aufklärung“ nichts geändert: Wer nicht ist wie die anderen und keinen gesundheitsstrotzenden Eindruck macht, wird auf die unterschiedlichste Weise ausgegrenzt und abgestempelt.

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