Ich bin erwachsen.

Soso, der Staat will mich also jetzt dazu erziehen, dass ich keine Energie mehr verbrauchen darf. Wieso, ist mir zwar nicht ganz klar. Klar ist mir aber die Konsequenz: Ich darf meine 80jährige kranke Mutter in München nicht mehr besuchen, weil ich dazu 100 km – einfach – mit dem Auto fahren müsste. Nach München darf ich sowieso nicht mehr rein, weil ich mir kein neues Auto leisten kann.
Diese Erziehungsmaßnahme lässt nur eine Konsequenz zu, um Sinn zu haben und Erfolg zu bringen: Ich muss alles aufgeben, was ich habe, samt Tieren, und mit meinem Mann in ein 1-Zimmer-Apartment direkt neben der Fabrik ziehen, in der ich am Fließband arbeite, 10 Stunden am Tag, bis ich 67 bin. Um mich zu entspannen, gehe ich abends in die firmeneigene Kneipe 20 m daneben, und um meine Arbeitskraft zu erhalten, benutze ich das firmeneigene Gym. Wenn ich krank bin, nehme ich meinen Tropf an den Arbeitsplatz mit, denn 50% kann ich auch mit der anderen Hand noch erbringen, und Beine brauche ich dafür sowieso nicht. Urlaub bekomme ich nur noch 2 Wochen im Jahr, weil alles andere purer, verschwenderischer Luxus ist, den andere Länder auch nicht haben, die ich selbstverständlich daheim verbringe, wo ich die Wände neu streiche und mal ordentlich Hausputz mache und vor allem dem Treppenabsatz unten schön sauber kehre.
An irgendeinem Weihnachten so um meinen 65. Geburtstag, wenn mein Dauer-Plastikweihnachtsbaum allzu schäbig geworden ist und der Tamagotchi heiser röchelnd verreckt, werde ich die Fabrik stürmen, die halbe Belegschaft erschießen, mich dann in meinem Apartment verschanzen, meinen Mann meucheln und anschließend mich selbst, und werde so auf dem Höhepunkt meiner Erziehungsakzeptanz den allerbesten Beitrag zur Sozialleistung, Umwelt und Energiesparsamkeit bringen, indem ich 1. gar keine Energie mehr verbrauche, und 2. mein Körper der Wiederverwertung durch Einbuddeln in lehmige Erde zugeführt wird. Gleichzeitig erspare ich dem Staat Rentenzahlungen für nicht weniger als 48 Personen, die mindestens 30 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben, keine Kinder mehr bekommen können, weil sie zu alt, also auch in dieser Hinsicht nutzlos geworden sind, die dadurch zudem ebenfalls keine Energie mehr verbrauchen und der Wiederverwertung zugeführt werden. Der örtliche Normrealdi-Discounter bietet ein Sonderangebot für gut abgehangene Schnitzel und fährt im Monat Januar einen Rekordgewinn ein, und der Verkauf einiger Organe rettet die städtische Klinik aus höchster finanzieller Not und sichert Arbeitsplätze. Die Örtliche Krankenkasse hat plötzlich ein gewaltiges Plus in der Kasse und kauft 49% Anteile an der Fabrik und das Mietshaus, in dem ich gewohnt habe. Durch die Mehreinnahmen der erhöhten Mietbeiträge werden für 2 Jahre keine weiteren Stellen abgebaut.
Posthum wird mir für dies alles das Bundesverdienstkreuz verliehen, und ich werde in einer öffentlichen Würdigung als leuchtendes Beispiel für ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft vorgeführt, das zu jedem Opfer bereit gewesen sei, um dem Staat zu dienen. Harald Schmidts Klon erklärt mich zur neuen Witz-Ikone wegen meines Amoklaufs, von Fabrikkameras aufgezeichnet, der einem Kabarettstückchen gleicht – vor allem mit Ton -, und für mindestens 100 Sendungen Kalauer-Stoff bietet, was die Sendung vor der Absetzung bewahrt und eine Millionenquote ermöglicht, womit die meisten Bundesbürger gut aufgeräumt daheim vor der Glotze hocken und nicht irgendeinen Unsinn draußen anstellen. Nach meinem Tode rette ich dadurch nicht nur einigen hundert potenziellen Straßenopfern das Leben, sondern nochmals ca. 60 Arbeitsplätze, plus der 24 in der Fabrik, die von den 48 neu besetzt werden. Dafür erhalte ich posthum im Jahr darauf den Bambi für die beste Medienpräsenz und meine Dienste an der Menschheit.
Hallo? Gehts noch, Leute? Die hochverschuldete Regierung verschleudert Abermillionen Euro für ein Erziehungsprogramm, das ich mir verbitte als mündiger, in einer, zumindest auf dem Papier bestehenden, Demokratie lebender Bürger. Ich verbitte es mir auch, dass Konzerne wie EON ungestraft Schweröl in die Luft blasen dürfen, was sich als hochgiftige Schlacke deutlich sichtbar abregnet; dass Hundertfach-Millionen- und Milliardenländer wie USA und China fröhlich in die Luft blasen, was ihnen gefällt, und sich einen – genau! – Dreck um eine einzelne Deutsche scheren, der Artikel 1 des Grundgesetzes entzogen worden ist, um die Umwelt zu retten. Ich verbitte es mir, ständig dafür beschimpft werden zu müssen, dass ich als Deutsche geboren bin und in diesem Land lebe. Ich verbitte es mir, die Verantwortung für rücksichtslose Unternehmer und Politiker übernehmen zu müssen, die sich – genau! – einen Dreck um die Gemeinschaft kümmern und nur auf ihr gefülltes Konto bedacht sind. Ich verbitte es mir, ständig als faul und zu anspruchsvoll bezeichnet zu werden.
Das Einzige, was man mir anlasten kann ist mein Phlegma, dass ich mich nicht aufraffen kann, etwas dagegen zu unternehmen, wie ca. 20 Millionen meiner erwachsenen Landsleute. Ja, den Vorwurf darf man mir machen. Denn es ist nicht so, dass „man nichts machen kann“. Es ist so, dass „man“ nicht will, dass man zu feige oder zu bequem ist und die – genau! – Drecksarbeit lieber anderen überlassen will. Ja, ich bin feige und bequem, und deshalb bin ich mit Schuld an den Zuständen in diesem Land, an der Aufteilung in eine einzige herrschende Schicht und die Schafe, die es hinnehmen, dass sie, anstatt den Lebensstandard verbessern zu dürfen, ihn extrem verschlechtern müssen. Ist es ein Wunder, dass jeder nur noch an sich denkt und zusieht, ein paar fette Happen abzukriegen? Dass keiner mehr Achtung vor dem Leben oder Eigentum anderer hat, und reuelos mordet, sei es das eigene Kind, oder die Oma?
Wir sind eine Industrienation im 3. Jahrtausend und sollten uns um den technologischen und soziologischen Fortschritt kümmern, um für jeden einen gewissen Lebensstandard und Würde zu sichern. Was hier staatlich verlangt wird, ist der lückenlose Sprung vom Fortschritt zum Rückschritt. Anstatt den Bürgern den Wohlstand zu sichern, wird er ihnen unter den Füßen weggezogen, denn, das hat uns schon ein Herr Dr. Kohl zu Beginn der 90er aufgedrückt: Wir müssen auch mal bereit sein, den Gürtel enger zu schnallen und zu verzichten (er brauchte in den folgenden Jahren eine besondere Maßanfertigung von Gürteln ab 2 m Länge). Das tun wir seit 17 Jahren mit steigender Tendenz und ohne Aussicht oder Versprechen darauf, dass wir letztendlich eines Tages davon profitieren werden. Denn für uns ist der Profit ja gar nicht gedacht.
Wieso aber muss ich meinen Lebensstandard minimieren? Ist das von irgendeinem evolutionären logischen Sinn? Wieso entscheiden andere darüber, auf welche Weise ich mich des Lebens erfreuen soll? Und wieso muss ich Kinder gebären und werde bestraft, wenn ich es nicht kann/will/tue? Irgendwie, liebe Freunde, erinnert mich das alles sehr stark an etwas, das wir überwunden glaubten. Am schlimmsten sind für mich diese kaum verschleierten Lügen, diese Heuchelei, diese ungenierte Verarschung. Was in diesem Land läuft, ist Abzocke, Willkür, Diskriminierung und Volksverhetzung, vom Staat selbst geleitet. Ich bin froh, dass mein Vater das nicht mehr miterleben muss. Er würde daran zerbrechen, was aus diesem Staat geworden ist und mit den Rechten seiner Bürger. Ich? Ich nicht. Verlasst euch drauf.

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