Joseph Anton (Salman Rushdie)

So, ich habe sie durch, die 700 Seiten-Autobiographie.
Und es ist schwierig, etwas darüber zu sagen. Von Anfang bis Ende hindurch war ich irritiert, dass Rushdie von sich selbst in der dritten Person schreibt. Dadurch entsteht eine Distanz, die für eine Autobiographie ungewöhnlich ist und ein zwiespältiges Gefühl hinterlässt.
Warum man dieses Buch liest? Weil man wissen möchte, wie sich jemand fühlt, über den eine Fatwa verhängt wird, und der von nun an unter strengster Bewachung leben muss. Rushdie erzählt viel, und er ist nun einmal ein guter, ja hervorragender Erzähler, was die 700 Seiten bewältigen lässt. Aber haben wir ihn auch zumindest ein wenig kennengelernt? Irgendwie nicht. Ich habe in meinem Leben schon ein paar Schriftsteller getroffen, auch welche auf der Bestsellerliste. Bei allen hatte ich den Eindruck, sie seien „ganz normale“ Menschen. Außergewöhnlich durch ihre künstlerische Begabung natürlich, und außergewöhnlich manchmal auch durch ein bewegtes Leben. Ein bisschen „verrückt“, gewiss.
Aber Rushdie bewegt sich in Gefilden, die unerreichbar sind für mich. Und so legt er es auch dar. Ich bitte das nicht mit Arroganz zu verwechseln, sondern ich spreche damit die Distanz an, die es schwierig macht, Bedauern zu empfinden trotz des Leids, das er durchgemacht hat. Rushdie gestattet nur einen sehr kleinen Einblick in sein Leben. Am undistanziertesten ist er dann, wenn er von seinen Eltern berichtet; obwohl, eigentlich nur von seinem Vater. Selbst seine Geschwister kommen kaum zum Zuge. Überhaupt sind alle Personen in seinem Umfeld irgendwie … Staffage, die sogar nur sehr selten ein Stichwort erhalten. Rushdie erzählt vom Leben eines Mannes in der dritten Person, er beschreibt seine Beziehungen, seine Gefühle – aber alles nur am Rande, in Nebensätzen. Er tobt sich mehr mit seinem phänomenalen, durch ein wohl penibel geführtes Tagebuch unterstütztes Gedächtnis aus durch Preisgabe von Begegnungen mit Personen, oder seiner Literaturkenntnis. Aber das liest sich mehr wie ein Geschichtsbuch in der Schule, nüchtern und ohne Hintergrund.
Rushdie führt einen erbitterten und tragischen Kampf um sein Selbstbestimmungsrecht. Doch mit wem genau kämpft er? Wen hat er an seiner Seite? Ich lese immer nur Namen. Es findet so gut wie keine unmittelbare Kommunikation statt, alle Personen einschließlich des Erzählers bleiben für mich unbestimmbare, ungreifbare Schattenrisse. Er erzählt, aber er zeigt nicht. Er lässt keinen Zugang zu. Zu keinem Zeitpunkt habe ich mich an seiner Seite gefühlt, sondern es kam mir eher so vor, als würde ich vor einem Guckloch sitzen, an dem Scherenschnitte vorbeiziehen. Vermisst habe ich beispielsweise auch etwas, zu dem ich selbst einen Bezug gehabt hätte (mal abgesehen davon, dass ich seine Werke lese), wie etwa in Norwegen das gemeinsame Symposium mit einem weiteren Verfolgten, Roberto Saviano, wo beide über ihr Leben als „Gefangene“ redeten – in dem damaligen Artikel war mehr Rushdie zu finden als hier. Doch er erwähnt diese Begegnung gar nicht. Warum eigentlich nicht, gerade weil sie doch beide Getriebene waren bzw. noch sind? Mich hätte interessiert, wie er sich in dem Moment gefühlt hat, einem „Leidensgenossen“ zu begegnen.
Ist Rushdie nun sympathisch oder nicht? Ich weiß es nicht. Der Schriftsteller ist für mich genauso fremd und unbekannt geblieben, wie er es vor der Lektüre gewesen ist. Ich hatte keinen Anteil an seinem Leben. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte das Schreiben der Biographie einem anderen überlassen. (Wie es Capote getan hat, und woraus die grandioseste und voluminöseste Biographie aller Zeiten wurde – auch wenn der arme Biograph hinterher ein seelisches Wrack war.) Gewiss macht Rushdie deutlich, dass seine Geschichte „aus ihm raus musste“, doch hat er sie nicht weitergeben wollen, sondern den Deckel nur ganz leicht angehoben und präsentiert nicht mehr als einen winzigen Ausschnitt seines tatsächlichen Lebens. Wer ist Rushdie, wer war Joseph Anton? Ich weiß es nicht. Dafür sind 700 Seiten an sich zu viel.

 

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