Lese-Tipp: „Maus“ von Art Spiegelman

Der Fischer-Verlag hat 2008 „Die vollständige Maus“ veröffentlicht. „Maus“ wurde 1992 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Berichtet wird die authentische Lebensgeschichte des polnischen Juden Wladek Spiegelman, Vater des 1948 geborenen Arthur „Art“ Spiegelman.
Man könnte jetzt sagen: Schon wieder eine solche Geschichte, doch diese hier ist vollständig anders. Um überhaupt zur Dokumentation imstande zu sein, hat Art Spiegelman die Geschichte in Tiere transferiert. Alle Juden sind Mäuse, die Deutschen Katzen, Polen Schweine, Franzosen Frösche, Skandinavier Elche und Amerikaner Hunde.
Arts Eltern haben Auschwitz überlebt, wobei die Tagebücher der Mutter, die in Arts Kindheit Selbstmord beging, vom Vater vernichtet wurden. Es gibt also nur noch dessen Perspektive.

Das Faszinierende an dieser Story ist die gleichzeitige Einbindung der Realzeit, als Wladek seinem Sohn die Geschichte erzählt. Art zeigt dabei deutlich das schwierige Verhältnis, das er zu seinem Vater hat, und er setzt überhaupt keine Wertigkeiten oder spricht Anschuldigungen aus. Es geht nur um das Überleben eines Menschen, der nicht besser oder schlechter als andere Menschen ist. Die Geschichte wird sehr nüchtern und unemotional von Wladek erzählt, der ein ziemlich schwieriger (- rassistischer -) und nicht unbedingt sympathischer Zeitgenosse ist.
Wladek hat den Krieg und Auschwitz mit Gewitztheit, Einfallsreichtum und unbeugsamem Lebenswillen überstanden. Begünstigt durch den vorherigen Reichtum konnten die ersten Jahre recht gut durch Tauschgeschäfte überstanden werden, weil immer noch genug Wertsachen vorhanden waren. Erst mit dem Moment der Falle und Deportation nach Auschwitz steht Wladek völlig vor dem Nichts – aber weil er ein kluger Beobachter und sehr schnell anpassungsfähig ist, kann er sich gute Arbeiten besorgen, die ihm Vergünstigungen einräumen. Und so nebenbei schafft er es auch noch, dass Anja in Birkenau Vergünstigungen erhält.

„Teil 1: Mein Vater kotzt Geschichte aus.“ Es beginnt vor dem Krieg mit dem jungen, schneidigen Wladek, der schon ziemlich genau weiß, was er will, und Anja, Arts spätere Mutter kennenlernt. Es endet mit der Falle und Deportation nach Auschwitz ca. 1 Jahr vor Kriegsende.

„Teil 2: Und hier begann mein Unglück.“ Die Zeit in Auschwitz und das glückliche Ende, das Wiederfinden von Anja. Dieser Teil wird hauptsächlich durch die Vater/Sohn-Beziehung bestritten und Arts Schwierigkeiten, mit dem Erfolg des ersten Teils, der 1986 erschien, fertig zu werden. Das ist eine sehr ergreifende Szene (wie so viele andere).

Man ist hautnah dabei bei der Entstehungsgeschichte des Werks, und zwar in zweifacher Hinsicht – einmal durch das von Wladek durchlebte Leid, und das zweite Mal durch Arts Umsetzung.

In neuerer Zeit hat Marjane Satrapi mit „Persepolis“ – inzwischen hervorragend als Film inszeniert – gezeigt, dass sich gerade solche Schicksale in extremen Zeiten durch das Medium Bild, und zwar in minimalistischer Form dargestellt, am besten eignen, um sie anderen nahezubringen. (Marjane Satrapi: Persepolis (1, Eine Kindheit im Iran; 2, Jugendjahre); Edition Moderne bzw. Ueberreuter)

Aber warum hat Art Spiegelman die Maus gewählt? Nicht nur, um ihre Hilflosigkeit gegenüber der Katze zu dokumentieren, sondern die Begründung findet sich in folgendem Zitat:

„Micky Maus ist das schändlichste Vorbild, das je erfunden wurde … Das gesunde Empfinden sagt jedem denkenden Heranwachsenden und jedem rechtschaffenen Jüngling, dass dieses ekelhafte, schmutzige Ungeziefer, dieser größte Bakterienüberträger im ganzen Tierreich niemals ein vorbildliches Tier sein kann … Schluss mit der Verrohung der Völker durch die Juden! Nieder mit Micky Maus! Tragt das Hakenkreuz!“ Zeitungsartikel, Pommern, Mitte der 30er Jahre.

Ich habe damals die deutsche Erstausgabe verpasst (wir haben auf der Buchmesse in Frankfurt viel drüber gesprochen) und war jetzt völlig von den Socken, dass es seit diesem Jahr die Gesamtausgabe gibt. Ich habe das Buch erst aus der Hand legen können, als ich damit zu Ende war, obwohl es stellenweise sehr hart war, weiterzublättern. Und noch einmal: Es geht hier nicht um irgendeine Schuldzuweisung oder „Erbsünde“, sondern wie bei Persepolis auch um das, was Menschen Menschen antun, überall auf der Welt.
Art Spiegelman: Die vollständige Maus, broschiert, 296 Seiten, Fischer (Tb.), Frankfurt; ISBN: 978-3596180943, 14,95

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