Mein Freund Dahmer (Derf Backderf)

Manche Geschichten muss man in Bildern erzählen, weil man nicht genug Worte für sie findet.
Daraus entsteht dann eine so genannte Graphic Novel (in Deutschland leider viel zu wenig beachtet und oft herablassend als „Nicht-Literatur“ abgetan), die solche herausragenden Titel wie „Maus“ von Art Spiegelman (mit dem Pulitzer ausgezeichnet) oder auch „Persepolis“ von Marjane Satrapi hervorbringt.
Der graphische Stil, so unterschiedlich er auch sein mag, hat unwillkürlich eines gemeinsam bei diesen Geschichten: Er ist minimalistisch ausgeführt, in scharfen Schwarz-Weiß-Konturen, hart und schnörkellos. Nicht unbedingt „schön“. Aber „schön“ sind diese Geschichten ja auch nicht, sondern sehr bewegend. Auch hier ist der Stil passend. Diese Graphik will nicht „gefallen“, sie ist ein Ausdruck und Transportmittel dessen, was den Erzähler bewegt. Was aus ihm herauskommt, ein Stück Ureigenes.

Ausgerechnet „Kaltblütig“ will ich hier zum Vergleich heranziehen, weil eine eindeutige Parallele besteht.
Wir erfahren hier die Vorgeschichte über Jeffrey Dahmer, einen grausamen Serienmörder in den USA, der zwischen 1978 und 1991 mindestens 17 Männer und Jugendliche umbrachte.
Genauso wie Truman Capote auch hat Derf Backderf 20 Jahre lang recherchiert, Interviews geführt, Archive gestöbert. Genau wie Capote auch erzählt Backderf die Geschichte nüchtern und distanziert als dokumentarischen Tatsachenbericht. Allerdings in diesem Fall NICHT die Geschichte der Taten, sondern das DAVOR, das einen kleinen Einblick in das geben mag, was später aus Dahmer wurde.
Aus diesem Grund trifft auch der zunächst irritierende Buchtitel genau zu. Das war für mich zunächst eine Abschreckung, aber wie es so ist, man muss sich eben darauf einlassen, und dann öffnet sich der Verständnishorizont. Und nein, das Buch könnte nicht anders heißen.
Genau wie Capote auch ging diese Geschichte Backderf an die Substanz. Capote, weil er zu tief in die Abgründe hinabgetaucht war und die emotionale Distanz nicht mehr schaffen konnte. Backderf, weil er mitten darin war. Weil er ein Teil der Geschichte ist und sich lebenslang mit der Frage quälen muss, ob er nicht etwas hätte tun/verhindern können/müssen. Weil er erfahren hat, dass der – zugegeben etwas seltsame – Junge, mit dem er in die Schule gegangen ist, neben dem er gesessen und mit ihm Blödsinn veranstaltet hat, ein grausamer Mörder ist. Und nun damit fertig werden muss.

Backderf beschreibt aber auch die Jugend der 70er, wie sie ganz typisch verlief. (Übrigens auch die meine, und ja, auch bei uns gab es Freaks, und ja, ich bin froh, dass ich nie erfahren habe, was aus ihnen wurde.) Er erzählt uns also von den Freaks, die es gab – und Dahmer war beileibe nicht der Einzige – und wie man mit ihnen umgegangen ist. Die laut waren, erhielten Verweise und Bestrafungen, die leise waren, wurden „übersehen“. Man könnte auch sagen: ignoriert. „Macht keinen offensichtlichen Ärger“, also ein Problem weniger, um das man sich kümmern muss. Wie tragisch falsch diese Einstellung ist, wissen wir alle. Vielleicht können Bücher wie diese uns dazu verhelfen, daraus einmal zu lernen … aber zumindest sollten sie uns aufrütteln.
Backderf prangert – zu Recht, und heute aktueller denn je – an, dass NIEMAND etwas dagegen tut. Dass nichts unternommen wird, solange nicht das Drastische geschieht. Genau so ist es überall auf der Welt, auch bei uns in Deutschland und dem sonstigen Europa. Die Massenmörder, die Massaker in den Schulen anrichten, tun das nicht aus einer Kurzschlusshandlung heraus, dem geht immer ein langer Prozess voraus, den niemand wahrhaben will, weil niemand sich verantwortlich fühlt. Genauso betrifft das auch die Gewalt in der Familie, die bis zur Gefangenschaft und Sklavenhalterei führt.

Eine wichtige Lehre müssen wir daher aus Geschichten wie diesen ziehen: Wir müssen wieder mehr Fürsorglichkeit füreinander aufbringen. Ob es gelingt? Vielleicht, eines Tages, wenn viele von uns diese Berichte verinnerlicht haben, und nicht einfach nur konsumiert.

Backderf berichtet die Geschichte nicht nur in oben beschriebener Bebilderung, sondern auch in einer Menge Begleittext, der fast die Hälfte des Buches ausmacht. Hier zwei Zitate, um zu verdeutlichen, worum es geht:

Für die Öffentlichkeit war Dahmer ein perverses Monster. Für mich war er ein Junge, der im Klassenzimmer neben mir gesessen und mit mir im Musikzimmer abgehangen hatte. Ein Außenstehender kann sich nicht vorstellen, wie das war, als die Nachrichten über Dahmer über mich hereinstürzten, oder wie es sich immer noch anfühlt, wenn ich an unsere Freundschaft denke. (…)
Ich glaube, dass Dahmer nicht als Monster hätte enden müssen, (…) wenn die Erwachsenen in Dahmers Leben nicht so unerklärlich, unverzeihlich, unverständlich ahnungslos und/oder gleichgültig gewesen wären. Ich kann dabei nicht genug betonen, dass mein Mitgefühl für Dahmer an dem Punkt endet, wo er zu töten begann. (…) entschied er sich, und nur er allein, Serienmörder zu werden und Leid über unzählige Menschen zu bringen. Es gibt eine verblüffend große Menge Menschen, die in Dahmer einen Antihelden sehen, ein verstoßenes Kind, das der Gesellschaft ihre Ablehnung heimzahlte. Das ist Unfug. Dahmer war ein kranker Bastard, dessen Verkommenheit nahezu jenseits allen Verständnisses liegt.

Backderf prangert aber nicht nur das Wegschauen und die Untätigkeit der Erwachsenen an, sondern auch die heutige Popkultur, die aus solchen verabscheuungswürdigen Menschen Ikonen machen.
Wobei ich das wegen der „Faszination des Bösen“ sogar bis zu einem gewissen Grad verstehen kann, denn der Voyeurismus liegt nun einmal in uns allen, und so ein „Spiel“ löst ein gruslig-wohliges Kribbeln in uns aus. Dennoch dürfen wir dabei nicht vergessen, was genau diese Typen wie Hannibal Lecter treiben, auch wenn sie fiktive Figuren sind. Es gibt genügend, die noch viel Schauerlicheres in der Realität tun.

Dieses Buch jedenfalls ist wichtig, es ist ein historisches Zeitzeugnis aus der Sicht eines Augenzeugen, und es bekommt in meiner Bibliothek seinen Platz gleich neben „Kaltblütig“, dem es in nichts nachsteht. „Mein Freund Dahmer“ wäre für mich eine wichtige Schullektüre, denn es ist kurz, knapp, prägnant und bietet sehr viel Background an Diskussionen, Anregungen und Auseinandersetzung. Gerade für die Jugendlichen.

Das Schlusswort überlasse ich Lutz Göllner (zitty), der das Nachwort für die deutsche Ausgabe verfasst hat: Eines sollte klar sein: Serienmörder sind eben meist keine hochintelligenten Supermänner wie Dr. Lecter oder Dexter. Meist sind sie inzestuöse, triebgesteuerte Knalldeppen mit einem Intelligenzquotienten, der sich knapp über Raumtemperatur bewegt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.