Und nun.

So. Da ist es also, das Ergebnis, und Regierungen, unter anderem die deutsche, sind „völlig überrascht“. Ähm … worüber genau? Dass das Referendum über den Brexit genauso knapp ausgefallen ist wie in all den Hochrechnungen zuvor ausgiebig geschildert? Ach so, ja – das Böse hat gesiegt. Eine knappe – sehr knappe Mehrheit – hat für den Ausstieg aus der Union gestimmt.
Und anstatt der großen Party, Euphorie, Bejubelung der „klugen Briten“, der „Wir sind England!“-Betitelung eines vierbuchstabigen Blättchens (oder auch „Wir sind Union“ „Wir sind sooo schlauuu“ u.ä.) nun die Ernüchterung.
Nun werden die Briten als „Vollidioten“, „saudumm“, „blöd“ und was weiß ich öffentlich beschimpft, im Netz, im TV – und die Flamer dafür gefeiert.
Geht’s noch?
Ist DAS die wahre deutsche Kultur, die derzeit so wichtig genommen wird (angesichts der Billionenmassen an Flüchtlingen, die soeben unser Land wie die Sintflut überschwemmen und alles niedermetzeln, was deutsch ist)? Wir beschimpfen auf wüste Weise die Bürger eines anderen Landes, scheren sie alle gleichermaßen über einen Kamm (ja, denn bei „die sind Vollidioten“ werden die Pro-EU-Stimmen miteingerechnet). Nur, weil das Ergebnis nicht so ausgefallen ist, wie wir es bitteschön gern hätten? Und gleich heißt es auch: deswegen bin ich gegen die direkte Demokratie, denn die Bürger sind zu dumm, das Richtige zu tun.
Ähm. Verstehe ich das richtig: Die Bürger sind nicht zu dumm, ihre Partei zu wählen und auf niedriger Ebene auch ihre politischen Vertreter. Aber für Volksentscheide sind sie nicht geeignet?
Stimmt. In einer Hinsicht, nämlich dann, wenn das Volk durch mangelnde Transparenz und ebenso mangelnde Aufklärung und Information absichtlich dumm gehalten wird. Wenn der Bürger tatsächlich zu wenig Inhalt kennt, um abwägen zu können, was die bessere Entscheidung ist.
Was aber grotesk ist, sich als Deutscher anzumaßen, die Briten für ihr Verhalten zu maßregeln und abzukanzeln, ohne selbst eine Ahnung zu haben, was genau „da drüben“ abgegangen ist, ohne zu akzeptieren, dass sich die britische Mentalität deutlich von der deutschen unterscheidet. Ziehen wir lieber die Auswertungen heran: Hauptsächlich „die Alten“ haben für den Brexit gestimmt. Und „die Jungen“ sind darüber sauer. Ganz klar sind sie das! Wo leben denn „die Jungen“? In London. Dort, wo man global Geschäfte und Karriere macht. Wo leben die meisten „Alten“? Auf dem Land. Dort, wo die Uhren ein wenig anders gehen, wo man noch auf Traditionen bedacht ist und wo in einem der Nationalstolz noch verhaftet ist. Wo man tatsächlich nicht diesen Weitblick hat, den man haben müsste, um eine solche Entscheidung mehr als nur nach dem Gefühl zu treffen. Wo man – in dem Fall die Regierung – schlichtweg versäumt hat, mit den Leuten zu reden, ihnen zu zeigen, worum genau es bei dem Gedanken EU geht. Die Populisten haben das getan. Einseitig, natürlich, und Erfolg gehabt. Sie haben Versprechungen abgegeben, die die Leute hören wollten, die sie niemals erfüllen wollten (oder gar könnten). Diesen Vorwurf muss man den Ablehnenden natürlich machen: Nichts aus der Vergangenheit gelernt zu haben und solchen Worten nicht nur Gehör, sondern auch Glauben zu schenken.
Andererseits: wir Menschen wollen doch beschissen werden. Welchen Apfel kaufen wir? Den, der schön glänzt und toll aussieht. Welchem Autoverkäufer glauben wir? Dem, der an unsere Gefühle appelliert, warum wir das Auto haben wollen. Welchem Geldanleger glauben wir? Dem, der uns die höchste Rendite verspricht.
Dabei wissen wir doch, dass das alles erstunken und erlogen ist. Und trotzdem blättern wir freudestrahlend das hart erarbeitete Geld hin, räumen das ganze Konto leer.
Also: Populisten zuzuhören, ist dumm. Ja, saudumm. Gar keine Frage. Das ist aber keine britische Charaktereigenschaft. So sind wir alle. Deshalb steht es uns noch weniger zu, die Briten dafür zu beschimpfen. Erst mal selber an die Nase fassen und schauen, was bei uns im Land grad abgeht mit all den Petrys und Gaulands.
Genau diese Faktoren müssen berücksichtigt werden um zu erkennen, wie es zu dieser Entscheidung kommen konnte. Abgesehen von den so und so viel Prozent an Wählerstimmen, die gar nicht erst abgestimmt haben! Bei dem knappen Ergebnis hätte es wahrscheinlich, das wage ich jetzt mal zu behaupten, mit den fehlenden Stimmen anders ausgesehen.

Natürlich finde ich diese Entscheidung katastrophal, doch ich halte sie für wegweisend und eigentlich auch als hoffnungspendend. Genau jetzt wäre die Zeit, das Ruder herumzureißen, den „Vereintes Europa“-Gedanken wieder in den Vordergrund zu stellen und zu zeigen, warum wir das so wollen, warum das gut für uns alle ist, warum das zukunftweisend ist – und an und für sich ohnehin die einzige Chance auf eine fortschrittliche, friedliche und entwicklungsfreudige Zukunft.

Warum jetzt hysterisch oder beleidigt reagieren? Worauf denn? Fassen wir mal zusammen, was genau sich jetzt ändert. Für die Briten schlagartig der Verfall ihrer Währung – aber das werden sie überstehen, denn sie wird auch wieder steigen. Ansonsten gibt es keine Währungsreform, da der Euro nie eingeführt wurde. Für uns Nicht-Briten ändert sich erst mal gar nichts. Für die EU fällt ein Nettozahler weg, aber wie genau sich das auswirken wird – mal abwarten.
Es gibt also ein Referendum. Das ist noch lange keine offiziell beurkundete Mitteilung seitens der Regierung „wir treten aus“. Es bleiben zwei oder mehr Jahre Karenzzeit, in der Verhandlungen aufgenommen werden über Vereinbarungen nach dem Austritt. Betrifft Zölle, Reiseformalitäten, Handel, Aufenthaltsgenehmigungen, Studienmöglichkeiten. Und so weiter. Und es werden sich Lösungen finden lassen, wie GB „ein kleines Mitglied“ bleibt, so wie Norwegen. Mindestens zwei Jahre – das ist eine lange Zeit. Da kann viel passieren. Auch eine Änderung der Entscheidung im Sinne von Adenauer.

Aber was einfach gar nicht geht, ist unser Verhalten. Manche – zu viele – Deutsche gefallen sich darin, anstatt nachzudenken oder Argumente zu finden, nur noch draufzudreschen und jeden niederzuprügeln, der sich nicht so wie gewünscht verhält. Statt fundierter Wortwahl genügt es, einen anderen als Deppen zu verunglimpfen, und schon bekommt er jede Menge Likes. Das empfinde ich als no-go. Es mag ja so manch gebildeter Kopf dahinterstecken, aber es wäre schön, wenn der mehr zum Vorschein käme. Jeder Politiker bekommt heutzutage sofort Morddrohungen, wenn er eine unerwünschte Aussage tätigt. Die Neigung zur Gewalt steigt, die Hemmungen, sie auszuüben, fallen. Sich so zu verhalten ist schlichtweg indiskutabel.

Und das hat mit dem Gedanken eines Vereinigten Europa nichts, aber auch gar nichts mehr gemein.

 

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