Zum Ausklang des Jahres nehme ich mir eine stille Minute. Ein bisschen wehmütig, aber auch voller Freude. Angesichts meines Jubiläums – 30 Jahre Erstveröffentlichung, 20 Jahre Freelancer – habe ich mein Debüt noch einmal publiziert. Ein wenig überarbeitet, um die eine oder andere Szene erweitert, und mit einem Anhang versehen „wie es dazu gekommen ist“. Ich habe mir das sozusagen selbst geschenkt, weil ich durchaus stolz darauf bin, so viel erreicht zu haben: Meinen Traum zu leben.
Umso schöner ist es für mich, dass viele meine Freude teilen. Seit Monaten schon bekomme ich Mails und Post von „Lesern der ersten Stunde“, die mir „von damals“ berichten. Manche haben das schlichte Heyne-Taschenbuch heute noch auf dem Nachttisch! Auf der einen oder anderen Veranstaltung gab es Begegnungen, die ich mir nicht erträumt hätte nach der langen Zeit: Menschen, die den Titel wiedererkennen, deren Augen dann aufleuchten, die sagen „ja, gibt es das wieder?“, das Buch in die Hand nehmen und mir erzählen, was sie beim Lesen damals empfunden haben. Das waren meine schönsten Momente dieses teils doch sehr … hm … befremdlichen Jahres.
In dieser Rückbesinnung, Melancholie und Nostalgie wünschte ich mir, mein lieber Vater hätte das noch erleben dürfen. Er starb vor 40 Jahren, als ich mitten in der Pubertät war und bereits fest entschlossen, gegen alle Widerstände Schriftstellerin zu sein. Nicht zu werden, denn zu dem Zeitpunkt hatte ich schon hunderte Seiten geschrieben und betrachtete mich als solche. Als ich 11 war, habe ich meinen Vater ins Vertrauen gezogen und ihn gebeten, sich meinen Text anzusehen. Er war mein erster Förderer, der meinen Geschichten, die ich als kleines Mädel, des Schreibens und Lesens noch gar nicht mächtig, schon damals lauschte. Nicht nur, dass er zugehört hat. Er hat auch Fragen zu den Inhalten gestellt, wodurch ich dazu lernte und die Geschichten zusehends strukturierte und ausbaute.
Jeden frühen Morgen, wir waren beide Frühaufsteher, sind wir eine halbe Stunde lang gemeinsam durch unseren Garten gewandert, das war die Stunde der Geschichten. Als ich dann endlich schreiben konnte, musste mein Vater den Lehrern erklären, warum ich statt mit Rechenaufgaben die Hefte lieber mit Geschichten füllte.
Mit 10 entdeckte ich die alte Reiseschreibmaschine meiner Mutter und tippte darauf in den Sommerferien meinen ersten Roman. So um die 50 Manuskriptseiten dürften es gewesen sein, und natürlich eine Pferdegeschichte, und als Westernfan spielte sie selbstverständlich in Montana und handelte von einem Wildpferd, das eingefangen wird. Selbst farbig illustriert. Ich überarbeitete einige Male, bis ich es wagte, meinen Vater um Rat zu fragen, das war dann schon in den Sommerferien des Jahres darauf. So wurde mein Vater zu meinem ersten Lektor, und seine Ratschläge verinnerlichte ich nicht nur, sie bildeten die Basis und das Grundhandwerk.
Ob er wohl ahnte, was aus mir einmal wird? Da er ein absoluter Büchernarr war, da er zu Kriegszeiten Essen gegen Reclambüchlein tauschte und lieber den Magen als den Verstand hungern ließ, hätte es ihn sicherlich sehr gefreut, mich als Schriftstellerin zu erleben.
Da ich meinen Vater als Kind sehr bewunderte, bestärkte mich sein Lob, und nicht weniger seine fundierte Kritik, die mich weiterbrachte. Er nahm mich ernst, obwohl ich ein Kind war, und obwohl ich „bloß schrieb“, was für die übrige Umwelt schlichtweg anrüchig und nicht nachvollziehbar war. Ausgerechnet ich wollte so tun, als sei ich Siegfried Lenz oder Heinrich Böll? Wollte ich ja gar nicht, ich hatte ganz andere Geschichten zu erzählen, aber diese interessierten niemanden. Denn solch eine Spinnerei war genau dasselbe wie ein unsichtbarer Freund – nicht ernstzunehmen.
Mein Vater tat aber nicht so, er nahm mich wirklich ernst, denn er war glücklich, mit mir über das sprechen zu können, was ihm am wichtigsten war, was ihm am meisten am Herzen lag. Bis ins Alter las er jeden Morgen jeden Buchstaben der Süddeutschen. Und mit mir zusammen Bücher. Wir sprachen viel über Literatur, und wir hatten so manches gemeinsam, was ich als Erwachsene erst erkennen konnte. Mein Vater las in den 60ern – sic! – Perry Rhodan, er sah sich jeden SF-Film an, ich durfte als 8-Jährige lange aufbleiben, denn um 23 Uhr erst kam King Kong (das Original), und weil ich ein großer Dino-Fan war, sah er sich den Film mit mir an und sprach mit mir darüber. Er verpasste keinen Loriot und keinen Scheibenwischer, und obwohl er als Frühaufsteher bevorzugt früh zu Bett ging, freute er sich jedes Silvester wie ein kleines Kind auf „Dinner for one“ und lachte jedes Mal Tränen. So wie ich heute noch.
Durch den Ansporn meines Vaters verließ mich nie der Wille zu schreiben, trotz der skeptischen, kritischen und negativ eingestellten Umwelt. Ich tat es auch nicht heimlich, sondern stellte mich der Herablassung. Das war nun einmal meine Welt, mein Traum, und den wollte ich leben, nicht im Stillen träumen. Ohne meinen Vater wäre vielleicht alles anders gekommen, hätte ich vielleicht doch irgendwann den Mut verloren und mich dem familiären Druck gefügt. Aber er hatte an mich geglaubt, und deshalb glaubte auch ich daran, dass ich auf dem richtigen Weg war. Und so habe ich heute fast alles erreicht, was ich erstrebt habe. Ein bisschen was ist noch übrig, aber es ist ja auch noch nicht Zeit für den Ohrensessel.
Danke, Papa, ich denke in diesen Tagen ganz besonders an dich, und die Freude über meinen Erfolg heute und meine ungebrochene Leidenschaft sind vor allem dein Verdienst. Vierzig Jahre sind eine lange Zeit, und dennoch vermisse ich dich, doch ich habe auch immer noch deine Stimme im Ohr und so manche deiner speziellen Mimiken sehe ich lebendig vor mir. Du warst, was Ethik und Philosophie und auch Politik betrifft, der beste Lehrmeister. (Was Finanzen betrifft nicht, ähem, Finanzminister hin oder her.) Du hast den Grundstein gelegt, und ich werde weiterhin deinen Werten folgen, die auch die meinen geworden sind. In meinen Geschichten lebt ein Teil von dir.